Ida und August

Machen wir ein Gedankenexperiment! Nehmen wir an, Ida und August haben eine geheime Superkraft. Sie können sich nämlich beliebig in ihrer Epoche von Ort zu Ort teleportieren. ©NXDRF.DE

Ida und August sind zwei reale Menschen, die vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebten. Bei aller Wirklichkeit ihrer Existenz haben, sie sich zeitlebens jedoch nie getroffen. Ida und August sind Motive von zwei sehr verschiedenen privaten Fotografien aus der Zeit um 1910. Diese Fotografien sind Stücke meiner Sammlung, die ich ständig zu erweitern versuche. Leitmotive dieser Sammlung sind das private und das gesellschaftliche Leben sowie die Lebensumgebungen der Menschen in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Also in einer Zeit als Europa so völlig anders war, als wir es heute kennen. Die Städte sahen anders aus, die Menschen lebten völlig anders als wir heute, sie identifizierten sich anders in ihren Lebenskontexten.
Wenn ich diese alten Bilder aus der Frühzeit der Fototechnik betrachte, habe ich das Empfinden, dass allein durch dieses Betrachten die Menschen auf den Fotos eine Verlängerung ihres längst beendeten Lebens erfahren: da ist jemand, der sie ansieht, der sich Gedanken über sie macht. Ihre Gräber mögen längst eingeebnet, ihre Grabsteine mögen schon vor langer Zeit verrottet sein und dennoch: Zumindest in den Überlegungen ihres Betrachters sind diese Menschen wieder in der Welt. Wenn man so will setzt sich hier jene Idee fort, die ihren Niederschlag schon in den Pyramiden Ägyptens oder in den Grabmälern europäischer Kathedralen gefunden hatte: Im Gespräch der Lebenden zu bleiben, um seine eigene Ewigkeit wahrscheinlicher zu machen.

(Zeit-)Reiseveranstalter eines Gedankenexperiments


Diese Beobachtung an mir selbst führte mich zu einem Gedankenexperiment: Wenn Ida und August also in den Phantasien ihrer Betrachter zu einer neuen – ja, phantastischen – Art des Weiterlebens finden, warum sollte ich sie dann nicht auch etwas erleben lassen? So wurde ich zu Idas und Augusts Reiseveranstalter. In meiner Phantasie stattete ich die beiden mit der Superkraft durch Raum und Zeit reisen zu können aus und wählte ihre Reiserouten aus. Die Reise der beiden ist ein Spiel. Ein Spiel mit Geschichte, Geschichten und Phantasie. Ihre Reiseziele waren und sind Schauplätze von Geschichte und Geschichten. Manchmal sind es Orte mit kleinen Geschichten. Manchmal sind sie Handlungsorte dramatischer Geschichte. Was alle Bilder dieser Serie gemeinsam haben, ist, dass sie eine Welt zeigen werden, die vor zwei Weltkriegen in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von allen Zerstörungen unberührt waren. Manche der von Ida und August bereisten Orte bilden Schauplätze von berühmten Romanen oder von weltgeschichtlichen Ereignissen ab. Andere illustrieren möglicherweise nur die verschütteten Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.

Kurzum: Das Vehikel der beiden sind Ansichtskarten ihrer Epoche. Ja, Ihr habt richtig gelesen: Ida und August reisen durch echte Ansichtskarten der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts bis um ca. 1910. Freilich passe ich diese Ansichtskarten behutsam an unsere Sehgewohnheiten an, indem ich die zweidimensionalen Bilder in Räume auflöse und darin Kamerabewegungen möglich mache. Tauchen wir ein in diese historischen zweieinhalb-D-Erlebnisse!

Ida

Die virtuelle Ida auf einem Gruppenfoto vom August des Jahres 1010. Das Foto entstand anlässlich eines (vermutlich Sonntags-)Ausflugs in der Umgebung von Harzburg. ©NXDRF.DE

Eigentlich ist der Name der Frau unbekannt. Nennen wir sie deshalb einfach Ida. Ein Grund sie Ida zu nennen, ist, dass dieser Frauenname Ende des 19. Jahrhunderts zu den beliebtesten Taufnamen in Deutschland gehörte. Und schließlich ist Ida ein Kind des 19. Jahrhunderts.
Sie ist eine durchschnittliche Frau ihrer Zeit. Sie ist etwa Ende 30, Mitte 40 alt. Gekleidet ist sie mit einem der damals modischen knöchellangen Kleider, weiß, mit hochgeschlossenem Kragen. Dieses Kleid ist mehr praktisch als festlich. Um den Hals trägt sie eine schlichte Kette mit einem Medaillon als Anhänger. Und vor der Brust anstatt einer Brosche: ein kleines Blumensträußchen. Vielleicht hat sie es während des Feiertagsausflugs auf einer Wiese am Waldesrand gesammelt und zufällig zusammengestellt.
Ida steht im Schatten und hält deshalb ihren ausladenden Hut in der linken Hand. Fotografiert wurde dieses Gruppenbild im Jahr 1910 während eines Ausflugs im südwestlichen Harzumland.

August

Ein entfernter Verwandter? Ein Gast? Ein Freund der Familie? August steht abseits der Gruppe. Ist das schon ein Zeichen, dass er seine Superkraft nutzen wird, um eine virtuelle Weltreise zu beginnen? Wir wissen es nicht. ©NXDRF.DE

Auch den Namen des Mannes kennen wir leider nicht. Ich nenne ihn daher einfach August. Dieser Name war über ganze Zeitalter sehr beliebt. Von den Zeiten des Römischen Reichs (wo Augustus der „Erhabene” bedeutete) bis hin zu den Zeiten, in denen der „Dumme August” die Bezeichnung für einen Clown im Zirkus war. In den Zeiten, in denen unsere Fotos entstanden, waren Männer mit diesem Namen häufig anzutreffen.
Unser August posiert auf einem sorgfältig inszenierten und fotografierten Familienbildnis an dessen äußerst linkem Rand. Dieses Bild ist kein Schnappschuss wie Idas Andenken. August und die übrigen (vermutlich) Familienmitglieder haben sich anlässlich eines festlichen Ereignisses zusammengefunden. Ihre Kleidung ist von der Art, die man damals „Sonntagsstaat” nannte. Die Pose der Porträtierten ist künstlich, um nicht zu sagen „steif”. Für die technisch bedingten Belichtungszeiten damals, musste man ziemlich lange unbewegt in die Kamera gucken. Ein Grund, weshalb man aus dieser Zeit kaum Fotos mit lächelnden Menschen sieht.

Aber zurück zum Bild: August steht etwas abseits von der Gruppe. Ja, er steht so weit draußen, dass hinter ihm schon die Bühnenkonstruktion und Requisiten zu sehen sind, die eigentlich nicht auf ein Foto gehören. Aus der Konstellation lässt sich ablesen, dass August nicht zum inner circle der Gruppe gehört. Ist er ein Gast? Ein entfernter Verwandter? Ein Freund der Familie? Nehmen wir an, seine Platzwahl ist von ihm selbst getroffen worden, dann kann man Augusts Bedürfnis sich abzusetzen überdeutlich erkennen. Möglicherweise aber fremdelt August auch nicht mit den Menschen, sondern mit der Dekoration der Szene. Vielleicht mag er diese „Baywatch”-Szenerie des frühen 20. Jahrhunderts nicht: (Strandkörbe! Und dann kein Sand! Pah!)

Das kann ja heiter werden. August ist wohl eher der ernsthafte Typ.

Kurorte, Casinos und mondäne Bäder

Blick vom Kurhaus auf das Hotel Nassauer Hof in Wiesbaden. So etwa könnte auch Fjodor M. Dostojewski das erste Haus am Platz gesehen haben, als er 1865 in Wiesbaden (das er im Roman „Roulettenburg” nennt) lebte, Roulette spielte und den Roman „Der Spieler” schrieb. ©NXDRF.DE

Wiesbaden um 1910:

Idas und Augusts erste sentimentale Reise

Dostojewski ist längst tot, als Ida und August auf ihrer ebenso sentimentalen wie virtuellen Zeit-und-Raum-Reise um 1910 in der mondänen Kurstadt eintreffen. Jedoch können sich beide noch 30 Jahre nach dessen Tod die Anwesenheit des russischen Schriftstellers hier als einen inspirierenden Impuls vorstellen. Dostojewski reiste mehrmals nach Westeuropa, wobei er sich bemerkenswert ausdauernd in deutschen Städten aufhielt. Mindestens ebenso schicksalhaft wie zerstörerisch ist Dostojewskis Begegnung mit dem Roulettespiel zu nennen. Das war – wie alle Glücksspiele – in Russland streng verboten, während Casinos in den großen deutschen Kurorten zu den maßgeblichen Vergnügungen zählten. Man sagt, Dostojewskis Aufenthalt in Wiesbaden 1865 führte dazu, dass er seine Reisekasse verspielte.

Das Kurhaus von Wiesbaden mit Casino: Heute würde man einen solchen Ort wohl Hotspot nennen. Das Kuren mit Wasser aus den Heilquellen der Stadt war ein wichtiger Faktor, um überwiegend reiches Publikum aus ganz Europa anzulocken. Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts war die Kur als therapeutische Maßnahme zunehmend zur Amüsierveranstaltung geworden. Für die Betreiber ein höchst einträgliches Geschäft. Bemerkenswert viele Russen reisten aus dem Zarenreich in die bedeutenden Kurstädte Deutschlands. Wiesbaden und Baden-Baden gehörten mit Sicherheit zu den beliebtesten Reisezielen oft unbeschreiblich reicher (manchmal aber auch weniger reicher) Russen. Die russische Leidenschaft für mondäne Kurbäder hat bis heute nie aufgehört. Und weil Wassertrinken und Baden nur begrenzte Zeit unterhaltsam sind, wurden Ausflüge in die umgebenden Weinregionen und den Taunus angeboten, musikalische Veranstaltungen und Theateraufführungen organisiert und nicht zuletzt Zerstreuung beim Glücksspiel angeboten. Nicht alle konnten den Verheißungen der Glücksspiele widerstehen, nicht wenige ruinierten sich kolossal. Als Ida und August Wiesbaden besuchten war das Kurhaus ein Neubau. Wie diese zeitgenössische Lithographie zeigt. ©NXDRF.DE

Die Erlebnisse und Erfahrungen, die Dostojewski in Kurorten wie Baden-Baden, Bad Homburg und eben Wiesbaden ausgiebig machte, inspirierten ihn zu seinem Roman „Der Spieler”. Die Stadt Wiesbaden, der Kurpark, das Casino, aber eben auch das luxuriöse Hotel „Nassauer Hof” lieferten dem Autor die Vorlage für sein literarisches „Roulettenburg”. Dieses Hotel war das erste Haus am Platz – wie man damals so schön sagte. Zentral gelegen, nahe den wichtigen Orten der mondänen Kurstadt. Der Kochbrunnen, das Kurhaus mit dem Casino und schließlich das spektakuläre Theater der Stadt sind nur wenige Flanierminuten entfernt. Ja sogar der Bahnhof ist von hier nicht weit.

Das Hotel „Nassauer Hof”: Das erste Haus am Platz. Ida und August wählen diese Luxusherberge zum Ausgangspunkt ihres Aufenthalts in Wiesbaden. Im zweiten Weltkrieg hat das Gebäude einiges von seinem mondänen Charme eingebüßt. Mit gestutzter Fassade ist es heute nur noch ein Echo seiner großen Zeiten. Ida und August erleben das Haus zu seinen wirklich großen Zeiten: ein prunkvoller Bau am prunkvollsten Platz der Stadt. Die Animation der alten Ansichtskarte deutet den Glanz der großen Tage an. ©NXDRF.DE


Deutsche Kurstädte wie Wiesbaden und Baden-Baden ziehen Russen bis heute scheinbar unwiderstehlich an. Ida und August sind keine Russen. Jedoch könnten beide durchaus Dostojewskis Roman gelesen haben. Und das könnte wiederum ein Grund sein, ihre Reise in Wiesbaden zu beginnen und hier dem genius loci nachzuspüren. Ob Dostojewski neben dem Casino und dem luxuriösen Hotel an Wiesbaden heutiger Prachtstraße auch tatsächlich gekurt hat, ist bisher wenig erörtert worden. Ida und August jedenfalls nutzen den Anlass ihrer virtuellen Zeit-und-Raum-Reise, um am Kochbrunnen vorbeizuschauen: dem innerstädtischen Ort mit Quelle für Trinkkuren.

Der Kochbrunnen ist die zentrale Thermalquelle Wiesbadens. Hier tritt das Heilwasser mit ca. 66 Grad Celsius aus der Erde. Selbst entfernt liegende Kuranlage werden mit dem Wasser aus dieser Quelle versorgt. Der Ort wird schon im 14. Jahrhundert erwähnt. Ida und August erleben den Kochbrunnen zu einer Zeit seiner spektakulärsten Gestaltung der Trinkkuranlage um 1900 wie die Animation dieser alten lithographischen Ansichtskarte sehr schön zeigt. ©NXDRF.DE

Schließlich besuchen Ida und August noch den Neubau des Königlichen Theaters von Wiesbaden. Viele Jahre gab es ein Theater dort, wo jetzt das Hotel „Nassauer Hof” steht. Doch diese Aufführungsstätte war von Anfang an zu klein, so dass Ende des 19. Jahrhunderts ein prächtiger Neubau hermusste. Dieser an großen europäischen Theaterarchitekturen orientierte Neubau ergänzt das mondäne Ensemble zwischen Kuranlage mit Kurhaus, Casino, den Kolonnaden und schließlich dem Hotel „Nassauer Hof”. Vom Hotel sind es nur wenige Schritte zum Königlichen Theater.

Ganz im Geiste gründerzeitlicher Verschwendungslust: Diese animierte lithographierte Ansichtskarte aus der Zeit um 1910 zeigt das Königliche Theater Wiesbadens als Prachtbau. ©NXDRF.DE